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Warum es eine Geschwister-Scholl-Straße in Lemgo gibt

(oder beinahe nicht gegeben hätte)... Eine Begebenheit aus der Nachkriegszeit

 

Entschließung des Lemgoer Bürgermeisters Clemens Becker zu Straßenumbenennungen, 1945 (StaL B 5518)

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Am vergangenen Sonntag wurde an den Geburtstag von Sophie Scholl vor 100 Jahren am 09. Mai 1921 erinnert. Sie, ihr Bruder Hans Scholl und weitere Sympathisanten der "Weißen Rose" gelten heute als Symbolfiguren eines idealistischen, jugendlichen Widerstandes gegen Adolf Hitler, den Nationalsozialismus und nicht zuletzt gegen den Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche Straßen, Plätze und Schulen in der BRD sind inzwischen nach ihnen benannt.  So gibt es auch in Lemgo eine Geschwister-Scholl-Straße, die ihre Existenz einer "Entschließung des Bürgermeisters" in Lemgo vom 9. Mai 1945 zu verdanken hat, also bereits einen Tag nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. 1945 war Clemens Becker der von den Alliierten eingesetzte Lemgoer Bürgermeister, der sich anscheinend für diese Umbenennung stark gemacht hatte und ihr mutiges Handeln für erinnerungswürdig hielt. Einen Lemgoer Rat oder entsprechende Ausschüsse waren im Mai 1945 noch nicht wieder eingerichtet, so dass ein solcher "Alleingang" des Bürgermeisters möglich und rechtmäßig war.

Im Zuge dieser Entschließung wurden Straßennamen aus der NS-Zeit wie die 1935 nach Hitler und Hindenburg benannten Wälle nach den "Männern des 20. Juli", also Widerstand leistenden Offizieren der Wehrmacht, umbenannt. So sollte es einen von Witzleben und von Stauffenberg-Wall geben. "Ferner sind vor ca. Jahresfrist die Stud. Geschwister Scholl, die eine Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus aufgezogen hatten, Opfer des Naziterrors geworden." Offensichtlich verfügte man in Lemgo noch nicht über verlässliche Informationen zu den näheren Umständen des Todes der Geschwister Scholl, die bereits am 22.02.1943, also deutlich mehr als vor Jahresfrist, hingerichtet worden waren. Vorgesehen für die Benennung nach den Geschwistern Scholl war die seit dem März 1938 bestehende Braunauer Straße am Lüttfeld. 1938 hatte man in Lemgo, nach dem sog. Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, diese Straße nach dem Geburtsort Adolf Hitlers (Braunau am Inn in Österreich) benannt. Gleichzeitig wurde der Name der Regenstorstraße in Donaustraße geändert.

Die Entscheidung Clemens Beckers im Mai '45 geriet aber im Sommer 1947 nachträglich in die Kritik. Äußerer und formaler Auslöser war ein Erlass des Innenminsters von NRW vom 6.11.1946, der die Kommunen aufforderte, Straßen und Plätze umzubenennen, die noch die Namen deutscher "Militaristen" trügen. Der Lemgoer Hauptausschuss beschloss daraufhin, dass die nach Staufenberg und von Witzleben benannten Wallabschnitte andere Namen erhalten sollten, da es sich ja bei beiden Offizieren um Angehörige der Wehrmacht und damit um Militaristen handelte. Dem Hauptausschuss lag aber bereits zu dem Zeitpunkt der Sitzung das Ergebnis einer Besprechung der Stadtdirektoren im Kreis Lemgo vor, die einhellig der Auffassung waren, dass diejenigen Offiziere der "Hitler-Armee", die sich politisch gegen das Nazi-Regime gestellt und Widerstand geleistet hätten, nicht als Militaristen im Sinne des Innenminister-Erlasses zu sehen sein".

Die Mitglieder des Hauptausschusses hatten sich folglich gegen die Auffassung des Lemgoer Stadtdirektors Sethe positioniert und eine sehr eigenwillige Interpretation des Erlasses durchgesetzt. Erstaunlich und ohne Begründung sollte nun auch die Geschwister-Scholl-Straße "anders benannt werden", obwohl es sich hier zumindest bei Sophie Scholl nicht um Angehörige der Wehrmacht handelte.  Später regte das Rats- und Ausschussmitglied der SPD Fritz Grabbe an, die Geschwister-Scholl-Straße nach dem SPD-Reichspräsidenten der Weimarer Republik Friedrich Ebert zu benennen. "Die Beschlussfassung über diesen Antrag wurde auf eine spätere Sitzung verschoben". Ein entsprechender Beschluss dazu erfolgte aber anscheinend nicht mehr, so dass die Straße ihren Namen vom 9. Mai 1945 bis heute beibehielt.

Über die Gründe, warum man 1947 eigentlich keine Straßen oder Wälle nach Angehörigen des Widerstandes gegen das NS-Regime haben wollte, kann man nur spekulieren. In den ersten Jahren nach Kriegsende galten diese Personen, auch gerne als "Verschwörer" bezeichnet, in den rechts-konservativen Kreisen noch als Landesverräter, die sich gegen ihr Volk gewandt und ihren Eid gegenüber Führer und Vaterland verraten hätten. Die Unrechtsurteile der NS-Justiz bzw. Militärjustiz wurden unkritisch übernommen. Damit waren auch Hans und Sophie Scholl Verräter und Verbrecher, ohne dass man die Umstände und Hintergründe ihres Handelns berücksichtigt hätte. Der Alternativvorschlag, die Straße nach Friedrich Ebert zu benennen, war aber vermutlich den Konservativen doch zu stark SPD-lastig, so dass vermutlich die ursprüngliche Bezeichnung beibehalten wurde. Besser die parteipolitisch neutralen Geschwister Scholl, wenn auch Landesverräter, als die Galionsfigur der SPD aus der Weimarer Republik...