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Schmähbrief aus dem Stadtarchiv Lemgo

in der Sonderausstellung "Fake for Real" im Haus der Europäischen Geschichte

Schmähbrief/Pasquill gegen den Ratsapotheker David Welman mit der Darstellung des Apothekers als „Werwolf“ auf dem Schornstein der Lemgoer Rathausapotheke, Abschrift Nr. 32, 1642 (Stadtarchiv Lemgo, A 4694). Das Original ist nicht mehr vorhanden.

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In der aktuellen Sonderausstellung "Fake for Real - Eine Geschichte der Fälschungen" im Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel befinden sich als Leihgabe Schriftstücke aus der Prozessakte wegen Verleumdung und Diffamierung (Verbalinjurien) gegen den Lemgoer Ratsapotheker David Welman (Stadtarchiv Lemgo A 4694). Dabei handelt es sich um sog. Schmähbriefe oder Schmähschriften. Schmähbriefe (Pasquillen) dienten in der Vergangenheit der Verunglimpfung und Herabwürdigung eines Gegners aus unterschiedlichen Motiven. Abweichend vom Fall Jan Böhmermann sind die Verfasser der Schmähbriefe zumeist anonym und bedienen sich dieser Form auch, um eine höhergestellte oder mächtigere Persönlichkeit kritisieren, diffamieren oder lächerlich machen zu können, ohne sich selbst zu gefährden.

Auch im Stadtarchiv Lemgo haben sich durchaus Fälle solcher Pasquillen und Schmähbriefe erhalten. Ein recht prominenter Fall ist der des Lemgoer Ratsapothekers David Welman (1595 – 1669)  aus dem 17. Jahrhundert, der insbesondere wegen der Werwolf-Vorwürfe eine gewisse Berühmtheit erlangte. Den gesamten Fall können Sie hier in einem Vortragsmanuskript (PDF-Datei) nachlesen.

Der Apotheker Welman war in Lemgo aus verschiedenen Gründen mit einzelnen Lemgoer Bürgern und Bürgerinnen in Konflikt geraten. Zwischen März und Oktober 1642 tauchten dann in der Stadt an prominenten und öffentlichen Orten angeheftete Zettel mit Schmähbriefen gegen den Ratsapotheker auf. In den Texten wurde Welman mit zahlreichen Beleidigungen und Schimpfworten belegt, u. a. auch als Werwolf, Hexenmeister, Teufel usw. Damit war die Ehre des Geschmähten in Gefahr geraten. In der Frühen Neuzeit war Ehre eine Form des sozialen Kapitals, das man vermehren und vermindern konnte. Ehre bestimmte nicht zuletzt auch die eigene Position innerhalb einer Gesellschaft. Wehrte man sich nicht gegen solche Herabwürdigungen, galten die geäußerten Vorwürfe als glaubhaft. Welman musste also handeln, was bei anonymen Flugschriften schwierig ist. Sein Verdacht richtete sich gegen die Lemgoer Familie der Plattenschläger, insbesondere gegen Gottschalk Plattenschläger, gegen den er einen Prozess in Gang setzte, der ohne ein endgültiges Urteil ausging.

Die zugehörigen Prozessakten haben sich im Stadtarchiv erhalten und umfassen mehrere Bände (StaL A 4694 – A 4701). Zeugenaussagen wurden protokolliert, die die Autorenschaft der Plattenschlägers belegen sollten. Teil der Prozessakten wurden auch die angehefteten 35 Pasquillen, die lose beigefügt und in einem fortlaufenden Text durchnummeriert abgeschrieben wurden. Damit ist ein umfangreicher Bestand an Schmähtexten erhalten, der die ganze Bandbreite an Beleidigungen, Unterstellungen und Beschimpfungen der damaligen Zeit enthält. Neben den Textpassagen wurden auch kleine Zeichnungen beigefügt, vor allem Welman als Werwolf oder mit einem wolfartigen Tier.

Warum die Pasquille mit der Originalzeichnung Welmans als Werwolf, der aus dem Schornstein der Ratsapotheke hinausfliegt, nicht mehr vorhanden ist und was das mit der NS-Zeit zu tun hat, können Sie auch hier erfahren.

Dr. Gerd Schwerhoff, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden, fasst diese Form der herabsetzenden Kommunikation in seinem wissenschaftlichen Blog unter dem Forschungsbegriff "Invektivität" zusammen. Im gleichnamigen Sonderforschungsbereich an der TU Dresden werden interdisziplinär die verschiedenen Erscheinungsformen von invektivem Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart untersucht. 

Die Sonderausstellung im Haus der Europäischen Geschichte  ist aktuell noch bis Oktober 2021 zu sehen und wird vermutlich noch bis Anfang 2022 verlängert.