Kriegsende in Lemgo 1945 - nach den Aufzeichnungen von Friedrich Sauerländer
Das Ende des Zweiten Weltkrieges kam für Lemgo am 4. April 1945, in diesem Jahr (2020) vor 75 Jahren. An diesem Tag nahmen US-Kampfverbände die Alte Hansestadt Lemgo von Hörstmar kommend, nach kurzen, aber teilweise verlustreichen Gefechten ein. Damit endete auch für Lemgo die 12jährige Herrschaft des Nationalsozialismus. Wie erlebten aber die Lemgoer selbst das Einrücken des "Feindes" in ihre Heimatstadt und das Ende des "Dritten Reiches"?
Es liegen durchaus einige Augenzeugenberichte über die damaligen Ereignisse vor, u.a. von Jospeh Wiese (1950 unter dem Titel "Lemgo in schwerer Zeit" veröffentlicht) oder an verschiedenen Stellen von Herbert Lüpke, der die Verhaftung des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer und dessen mißglückte Flucht selbst miterlebt hat. Im Sammelband "Zwischen Angst und Befreiung. Zeitzeugen berichten über das Kriegsende 1945 in Lippe" (1995 erschienen) gibt es veröffentlichte Berichte und Erinnerungen von Elisabeth Köster, geb. Köstering und Ernst-August Rullkötter.
Bisher wenig beachtet wurden die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Lemgoer Bürgerschulrektors und Heimatforschers Friedrich Sauerländer (1874 - 1967). Friedrich Sauerländer wurde am 25. April 1874 als Küstersohn in Lemgo geboren. Von 1891 bis 1894 besuchte er das Lehrerseminar in Detmold. Sauerländer trat später eine Nebenlehrerstelle in Lieme an, bevor er 1900 als Nebenlehrer nach Lemgo an die Bürgerschule wechselte. 1901 wurde er Hauptlehrer in Lemgo. Im Sommer 1902 heiratete er Berta Koch. Von 1924 bis zu seiner Pensionierung 1938 war er Schulleiter der Bürgerschule Echternstraße. Von 1939 bis 1945 half er, aufgrund des Lehrermangels, noch einmal jahrelang aus. Nebenberuflich unterrichtete Sauerländer Schüler am Technikum, und gab auch an der Abendfortbildungsschule der Handelskammer Kurse in Buchführung und Korrespondenz. Von 1911 bis 1942 war er Organist in der Kirchengemeinde St. Nikolai. Daneben verfasste er unzählige Artikel und Aufsätze über Heimat- und Familiengeschichte.
Aus seinem Nachlass haben sich maschinenschriftliche Aufzeichnungen erhalten, die chronologisch angelegt worden sind. In ihnen schildert er seine Eindrücke aus der Kriegszeit, die Schicksale aus der Familie und dem Verwandten- und Bekanntenkreis sowie Nachrichten aus Feldpostbriefen, die ihn erreichten. Sein Wissen schöpfte er aus eigener Anschauung, aus mündlichen und schriftlichen Berichten, teilweise natürlich nur Gerüchten. Seine darstellung ist dadurch sicherlich subjektiv gefärbt, was aber auch den Reiz seiner Schilderungen ausmacht. Die Eintragungen, die er wohl direkt mit der Schreibmaschine anfertigte, sind im Stadtarchiv als einfache S/W-Kopien unter der Signatur Bib. 7356/4 vorhanden. Die Originale befinden sich noch in Privatbesitz. Die Qualität der Seiten lässt zu wünschen übrig, zum einen, da es sich um Kopien handelt, zum anderen, da anscheinend Sauerländer gerade in den letzten Kriegstagen das Farbband der Schreibmaschine zur Neige ging und er erst später Ersatz beschaffen konnte. Teilweise sind deswegen einzelne Buchstaben und Worte nur schwer lesbar.
Nachfolgend sollen die tageweisen Eintragungen zwischen dem 2. und 18. April 1945 in digitaler Reproduktion zwischen dem 2. und 18. April 2020 wiedergegeben werden:
Eintrag vom 2. April 1945
"Solche Ostertage habe ich nie erlebt, hat Deutschland im Lauf seiner Geschichte nicht gesehen. In der Nacht von Karfreitag auf Sonnabend weckte mich ein Gebrumm aus der Luft wie von ganzen Geschwadern Flugzeuge. [...] Die Kette der Militärfahrzeuge riß nicht ab. Die Wagen überholten fortwährend die langen Kolonnen von Ostarbeitern, Kriegsgefangenen in den verschiedensten Uniformen, deutscher zurückgeführter deutscher Soldaten, deutscher flüchtender Zivilisten, ganze Familien, die ein dürftiges Gepäck in Rucksäcken, Koffern, Paketen und Bündeln mit sich schleppten [...]"
Eintrag vom 3. April 1945
"Der Kanonendonner hält den ganzen Tag an. In den Lebensmittelgeschäften werden Waren zusätzlich ausgegeben, damit die Bevölkerung für die ersten Tage versorgt ist und die Läger geräumt sind. Ein Gedränge in der Stadt wie in einem Bienenkorbe vor dem Schwärmen. [...] In der Stadt gehen allerlei Gerüchte: der Bürgermeister habe sein Amt niedergelegt, weil er mit seiner Meinung, die Stadt solle nicht verteidigt werden, beim neuen Ortskommandanten nicht durchgedrungen sei. [...] Soviel ist sicher, wenn die Stadt nicht zur offenen Stadt erklärt wird, so gibt es bei einem Kampfe ein ungeheures Blutbad. Denn Lemgo hat statt der 13 000 Einwohner vor dem Kriege gegenwärtig mit den ungezählten Evakuierten und Flüchtlingen, gegenwärtig gegen 30.000."
Eintrag vom 4. April 1945
"In dem Kösterschen Getreidesilo am Langenbrückertor hatte man das Lebensmittellager der Kriegsmarine geöffnet und dieses wurde nun nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert. Das sollen Frauen bis zu 3 Fäßchen mit Schmalz weggeschafft haben; die Habsucht hatte die Furcht vor den Geschossen überwunden. [...] Der Bürgermeister [Gräfer] war den amerikanischen Truppen bis Hörstmar entgegengefahren und hatte ihnen den Entschluß übermittelt, daß Lemgo nicht verteidigt werden sollte. Trotzdem hate eine Abteilung Infanteristen am Bahnhof den Kampf aufgenommen, und darauf sind die Zerstörungen an den verschiedenen Häusern zu erklären, am meisten soll das Hotel Köster gelitten haben, es müßte wohl geräumt werden. [...] Alle Leute haben erleichtert aufgeatmet, daß dieser Sturm so glimpflich über uns weggebraust ist."
Eintrag vom 5. April 1945
"Ungeheuer groß war am heutigen Tage der Verkehr der Fahrzeuge auf den Straßen. Hunderte von Tanks, Panzern, vollbeladenen Lastautos, Personenwagen und Motorrädern durchfuhren die Stadt. [...] Die Soldaten haben sich in Häusern der Nähe einquartiert. Leider haben sich dabei nicht alle gut betragen. In der Rödingschen Wirtschaft am Neuen Tor sind sie über den vorhandenen Alkohol hergefallen und haben dann im betrunkenen Zustande junge Mädchen und Frauen belästigt. Am Braker Wege sollen sie Frauen vergewaltigt haben. [...] Neben den vielen, die der Überzeugung sind, daß die Niederlage Deutschlands unvermeidlich ist, gibts aber solche, die fest daran glauben, daß die Feinde noch wieder aus dem Lande getrieben werden können."
Eintrag vom 6. April 1945
"Die erste Anordnung der Ortskommandantur ist angeschlagen. Besorgungen aus den Geschäften dürfen nur in den Morgenstunden von 9 bis 12 Uhr getätigt werden und zwar jedesmal nunr von einer Person aus jeder Familie. Die übrigen Menschen haben sich in der Wohnung zu halten. [...] Seit vorgestern wird erzählt, daß der Bürgermeister nicht wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Es scheint sich zu bewahrheiten, daß er tot ist. [...] Tatsache ist dagegen, daß der Bürgermeister von Brake erschossen worden ist, Verwandte in Lemgo haben das bestätigt. Man weiß nur noch nichts Näheres, vielleicht haben Braker Kommunisten den Mord auf dem Gewissen. Er soll ein eifriger Nationalsozialist gewesen sein."
Vom 7. und 8. April 1945 liegen keine Einträge vor
Eintrag vom 9. April 1945
"Da uns seit dem 5.4. kein elektrischer Strom mehr geliefert wird, können wir auch keine Nachrichten durch Radio empfangen, wissen seitdem also nichts über die Kriegslage. Sehr vermissen wir auch die Zeitung, weil man nun auch nicht gewahr wird, was in Lippe vorgefallen ist. Wir fühlen uns in unseren Wohnungen als Gefangene. [...] In den Geschäftsstunden ist das Gedränge auf der Breiten und Mittelstraße geradezu beängstigend, vorgestern soll es schon zu einer wüsten Schlägerei auf der Neustadt gekommen sein. Die ausländischen Arbeiter und Gefangenen bewegen sich mit einer aufreizenden Frechheit auf den Straßen. Vor den Geschäftslokalen drängen sie die Frauen zurück und schieben sich zuerst hinein. Selbstverständlich müssen sie auch mit versorgt werden; aber es würde besser sein, wenn sie, wie bisher, in den Gemeinschaftslagern verpflegt würden."
Vom 10. und 11. April 1945 liegen keine Einträge vor
Eintrag vom 12. April 1945
"[...] Die Ausgeherlaubnis ist gestern auf die Zeit von 6 bis 18 Uhr erweitert. Wenn man auch nicht sagen kann, daß das Leben auf den Straßen wieder normales Aussehen erlangt hat, so ist der Verkehr doch bedeutend gelockert. [...] Viele Polen und Russen haben ihre Arbeitsplätze auf dem Lande verlassen und verlangen nun, daß sie hier verpflegt werden. Die meisten kommen mit Fahrrädern und Gepäck an. Unsere städtische Polizei ist machtlos, weil sie entwaffnet ist. [...] Der Bürgermeister von Lieme erzählte mir jedenfalls, daß die Amerikaner ohne jede Belästigung der Dorfleute durch Lieme gezogen seien. Sie waren von Hagen gekommen und fanden Widerstand erst bei der Panzersperre beim Turmhofe. Dort waren einige Volkssturmmänner aufgestellt, die mit Panzerfäusten die Amerikander aufhalten sollten. Die Panzer kamen aber nicht nahe genug heran, sondern eröffneten aus größerer Entfernung das Feuer. [...]"
Vom 13. April 1945 liegt kein Eintrag vor
Eintrag vom 14. April 1945
"Gestern abend ist Erich von der amerikanischen Polizei aus dem Hause geholt worden und mit einer ganzen Anzahl anderer Männer, z. B. Rektor Bunte, Handwerkskammersekretär Klasing, Lehrer Kleesiek usw., und mehrer Frauen z. B. Fräulein Schulte, auf dem Ballhause interniert worden. [...] Wenn Gerechtigkeit geübt wird, so muß man ihn bald wieder entlassen. Es wäre zu bedauern, wenn nun von den Gegnern der Nazis dieselben Ungerechtigkeiten verübt würden, die sich diese zu Schulden kommen lassen haben; denn dann wird es im Deutschen Volke noch lange keinen Frieden geben."
Digitalisate: Seite 1
Vom 15. April 1945 liegt kein Eintrag vor
Eintrag vom 16. April 1945
"[...] Im übrigen wird unsere Stadt mehr und mehr zu einer Lazarettstadt. Auf dem rasen am Walle vor dem St. Johannistor sind zwei Lazarettzelte errichtet. Viele der villenartigen Häuser haben die Bewohner räumen müssen, z. B. das Wahrburgsche Haus, die Häuser am Müdenkamp und ind er Waterfohr, auch an der Leopoldstraße usw. [...] Der meisten Leute hat sich eine große Erbitterung bemächtigt, sehr verurteilt wird allgemein, daß Göbbels im Rundfunk noch immer zum Widerstande anreizt und sogar die Zivilbevölkerung zu Gewalttätigkeiten auffordert. [...] Sehr bedauert haben wir auch, daß alle Juden, ohne jede Ausnahme und ohne Rücksichtnahme auf Alter und Kränklichkeit aus Lemgo abtransportiert wurden. Wo bleibt da die Menschlichkeit?"
Eintrag vom 17. April 1945
"Allmählich dringt etwas durch über die Kämpfe um Lemgo. [...] Auf dem Biesterberge, der die Basis einer Verteidigung der Stadt bilden sollte, waren Stellungen ausgebaut worden [...] Bei der Panzersperre beim Laubkerhofe secheint ein kurzes Gefecht stattgefunden zu haben. In Laubke sind auch einige Häuser beschädigt. Herr Wend erzählte mir, daß sein Haus auch einen Volltreffer erhalten habe. Die Panzersperre am Rieperberge sollte durch Volkssturmmänner verteidigt werden; [...] Die Panzerspähwagen haben dann das Feuer der feindlichen Artillerie geleitet, und mit einigen wohlgezielten Schüssen, ist die Sperre zerstört worden. Die Geschosse der Kanonen sausten über Lemgo hinweg, so daß wir ihr Sausen hören konnten. Von den Soldaten sollen 6 Mann gefallen sein.[...]"
Digitalisate: Seite 1
Eintrag vom 18. April 1945
"Von jetzt an werde ich mich kürzer fassen müssen, da ich nicht weiß, ob ich wieder Papier bekommen werde. [...] Gestern um 6 Uhr ist hier der Bürgermeister beerdigt worden; die Leiche war von Bodenwerder nach Lemgo geholt worden. Um 5 Uhr war eine Trauerfeier in der Altstädter Kirche, die bis auf den letzten Platz gefüllt war, der Sarg Kränzen geschmückt und viel Blumen. Viele Neugierige standen vor der Kirche. [...]"
Digitalisate: Seite 1