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Lemgoer Ratswahl in der Vormoderne - nur ein politisches Ritual am Dreikönigstag (6. Januar) ?

- nur ein politisches Ritual am Dreikönigstag (6. Januar) ?

Das Lemgoer Rathaus als Ort der Ratswahl seit dem Spätmittelalter (vermutlich älteste Fotoaufnahme des Rathauses aus dem Stadtarchiv Lemgo)

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In der Vormoderne (vor 1800) vollzog sich die Wahl des Lemgoer Rates als führendes politisches, administratives und gerichtliches Gremium der Stadt (noch keine Gewaltenteilung!) jährlich zum Tag der heiligen drei Könige am 6. Januar und wurde dann am 7. Januar in das Ratsprotokoll nachträglich schriftlich aufgenommen. Der bisherige Rat der Stadt trat dabei ab und ein neuer Rat wurde "gewählt", wobei diese Wahl nicht nach heutigen demokratischen Maßstäben erfolgte, sondern eher einer Konsensfindung ähnelte. Die beteiligten, politischen Gremien (neben dem Rat die sogenannte Meinheit oder Gemeinheit als Vertreter der Bürgerschaft und die Dechen als Vertreter der Zünfte) mussten in diesem Verfahren Einigkeit bzw. Einstimmigkeit hinsichtlich der (männlichen) Ratskandidaten erzielen. Eine direkte Beteiligung der städtischen Bevölkerung erfolgte nicht. Der alte Rat schlug auf Zetteln der Meinheit und den Dechen die Ratskandidaten vor, die dann von diesen bestätigt oder auch nicht bestätigt werden konnten.  Am Ende mussten natürlich wieder zwölf Männer den neuen Rat bilden, darunter zwei Bürgermeister. Der neue Rat konstituierte sich also meistens auch wieder aus dem alten Rat, war aber vorher auf die Einwilligung der anderen beiden Gremien angewiesen.

Zumindest ab dem 18. Jahrhundert durfte ein Ratsherr aus dem alten Rat für den neuen Rat nicht einfach übergangen werden, wenn es nicht gewichtige Gründe gab, die gegen eine Neuwahl sprachen. Ab dem frühen 18. Jahrhundert wurde es auch zunehmend üblich, nicht jedes Jahr eine Ratswahl durchzuführen, sondern meist nur noch dann, wenn freiwerdende Ratsposten zu besetzen waren. Man sprach deswegen auch folgerichtig auch von einer Ratswandlung zwischen altem und neuem Rat, was eher den Wechsel der beiden Ratsgremien betonte und den Wahlcharakter des Vorgangs in den Hintergrund stellte.

Die erfolgte Wahl mußte anschließend durch den lippischen Landesherrn bestätigt werden, dessen Gesandte (Kommissare) bereits bei den Wahlhandlungen in Lemgo zugegen waren. Die damit verbundene Eingriffsmöglichkeit der Landesherrschaft in den kommunalen Bereich bot im Laufe der Geschichte immer wieder Anlass zu Konflikten zwischen Stadt und Landesherr.

Konflikte gab es anlässlich der Ratswahl aber auch innerstädtisch. Davon zeugt ein im Stadtarchiv erhaltenes, handschriftliches Pamphlet/Flugblatt von 1634, das anlässlich der bevorstehenden Ratswahl verfasst wurde. Darin kritisiert der anonyme Schreiber, dass die freie Ratswahl "zerbrochen" und "zertreten" sei, da es bereits im Vorfeld, auch am Abend der Wahl, Absprachen und geheime Zusammenkünfte (Konventikel) gebe und die redegewandten Anführer der Meinheit (er nennt sie Prinzen, vermutlich sind die sog. Wortwahrer gemeint) die Mitglieder beeinflußen würden.

Demnach soll es also Wahlabsprachen in Lemgo gegeben haben, die den nachfolgenden Wahlgang zur Farce machten. Indirekt zeigt dieser Text aber auch, dass es durchaus die Erwartung einer "echten" Wahl gab, die nicht nur nutzloses Ritual sein sollte... 

Das bei der Ratswahl angewandte Verfahren wurde bereits in den spätmittelalterlichen Verfassungsurkunden der Stadt niedergelegt (siehe dazu unten Exkurs) und in einem Ratsprotokoll von 1782 ausführlich dargestellt. Der komplexe und stark ritualisierte Ablauf, der für die Frühe Neuzeit in typischer Weise als symbolische Kommunikation Legitimität stiftete, soll hier nicht näher dargestellt werden, ist aber in einem Beitrag von Marianne Bonney in den Lemgoer Heften 1979 anschaulich beschrieben.

Auch welche Funktion die noch im Rathaus erhaltene sog. Ratsleuchte dabei hatte, geht aus dem Ablauf hervor.... Das Ratsprotokoll von 1782 ist als normalisierte Abschrift hier ebenfalls zum Download bereitgestellt, wer sich für die Originalquelle interessiert...

Die sich dem Wahlgang stets anschließenden Festmähler haben sich in Form der entsprechenden Rechnungen auch im Stadtarchiv erhalten, so beispielsweise für 1668. Hier eine entsprechende Abschrift...

Mit dem Erlass der lippischen Städteordnung von 1843 wurde die bisherige Lemgoer Verfassung (auch als Vier-Haufen-Verfassung bezeichnet) aufgehoben und mit der Stadtverordnetenversammlung erstmals ein demokratisch legitimiertes Kommunalparlament nach neuzeitlichen Kriterien geschaffen, das tatsächlich durch direkte Wahl der männlichen Bevölkerung (wenn auch abhängig von Einkommens- und Eigentumskriterien) gebildet wurde. Lediglich die Meinheit der vorherigen Verfassung kann dafür noch am ehesten als Vorläufer gelten...

Exkurs: Die Verfassung der Stadt Lemgo (bis zum Erlass der lippischen Städteordnung von 1843) wurde im Spätmittelalter erstmals in drei Urkunden niedergelegt, die die hergebrachte Verfassungswirklichkeit nachträglich dokumentierten: der sog. "Kerbschnittbrief" (Mitte 14. Jhd., U 86), die sog. Regimentsnottel I (Mitte 15. Jhd., U 763) und die Regimentsnottel II (1491, U 764). Die politischen Gremien organisierten sich demnach in sog. vier Haufen. Der Neue oder Geschworene Rat (12 Mitglieder), der Alte oder Ruhende Rat (12 Mitglieder), die Meinheit (24 Mitglieder) und die Dechen der neun "ratsfähigen" Ämter (=Gilden, Zünfte). Jeder der beiden Räte setzte sich aus sechs Ratsherren (ohne Funktionszuweisung), zwei Kämmeren, einem Beisitzer (Assessor), einem Ratssiegler und zwei Bürgermeister zusammen.