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„…wir sind doch nun mal so erzogen worden und sind uns keiner Schuld bewußt…“

– Aussagen Lemgoer Schülerinnen zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1946

Am 30. September und 1. Oktober 1946 wurden die Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (vor 75 Jahren) verkündet. Diesem ersten Prozess zur juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen folgten noch zwölf weitere Prozesse. Die damalige öffentliche Wahrnehmung in den deutschen Besatzungszonen war wohl teils durch Desinteresse, Ablehnung, oder eine Fokussierung auf die herausgehobenen Repräsentanten des NS-Systems (Hitler, Göring, Himmler, Goebbels…) geprägt, denen man die Hauptverantwortung zuschob. Den „normalen“ Deutschen traf keine individuelle Schuld…

Wie sah es dabei konkret in Lemgo aus? Lassen sich solche allgemeinen Aussagen auch für die Alte Hansestadt bestätigen? Aussagekräftige Quellen dazu fehlen weitgehend, bis auf eine kleine Ausnahme.

Am 16. Mai 1946 fragte der Direktor der Oberschule für Jungen in Lemgo (d. h. Engelbert-Kaempfer-Gymnasium) Dr. Ernst Walter (1887 – 1948) bei seinem Kollegen, dem Direktor der höheren Mädchenschule in Lemgo (später: Marianne-Weber-Gymnasium) Dr. Waldemar Schmidt (1891 – 1969) an, ob dieser ihm seine Feststellungen aus den Gesprächen mit den jungen Mädchen seiner Schule zu den Nürnberger Prozessen mitteilen könnte. Äußerer Anlass war anscheinend die Nachfrage eines britischen Besatzungsoffiziers. Walter wusste zu dem Zeitpunkt anscheinend bereits, dass Schmidt solche Gespräche geführt hatte, so dass er um die Zusendung der Informationen noch im Laufe desselben Tages bat.

Tatsächlich schrieb Schmidt aber erst am nächsten Tag und schickte das Schreiben am 18.05.1946 ab. Aufgrund der knappen Zeitvorgabe fügte er erläutern hinzu: „Eine gründliche Durcharbeitung des Materials war bei der Kürze der zur Verfügung gestellten Zeit nicht möglich [unmöglich]“. Es ist also davon auszugehen, dass Direktor Schmidt noch über irgendwie geartete, schriftliche Aufzeichnungen der mündlichen Gespräche verfügte, die sich leider nicht erhalten haben bzw. deren Verbleib unbekannt ist.

Im Teilnachlass von Dr. Ulrich Walter, der 2021 ins Stadtarchiv Lemgo gelangte, befindet sich auch eine einseitige maschinenschriftliche Zusammenstellung unter der Überschrift „The German Youth (Antwort auf eine englische Anfrage)“. Im englischsprachigen Text bezieht sich Walter auf Gespräche mit Jungen im Alter von 16 bis 21 Jahren, von denen ein Teil noch immer zur Schule gehe. Soweit als möglich, seien die Bemerkungen der Jungen wortwörtlich zitiert. Es ist also stark zu vermuten, dass hier eine vergleichbare Zusammenstellung von Schülermeinungen vorliegt, diesmal wohl am Jungen-Gymnasium und auch auf eine Anfrage der britischen Besatzungsmacht hin. Ein möglicher Aktenzusammenhang fehlt hier.

Die nachfolgenden sechs Aussagen des Textes beziehen sich aber nicht auf die Nürnberger Prozesse, sondern auf die grundsätzliche und allgemeine politische Einstellung der Jugend zu Demokratie, Besatzungsmächte und Nationalsozialismus.

Beide Zeitdokumente zeigen eine Lemgoer Jugend, die noch schwankend zwischen Diktatur und Demokratie steht, deren bisheriges Weltbild zutiefst erschüttert bzw. zerstört ist und die den Ideen und Wertvorstellungen der Besatzungsmächte skeptisch und desillusioniert gegenüber stehen.